30.10.2025

Das Unbegreifliche begreifen? – Bericht einer Schülerin über die Studienexkursion nach Krakau und Auschwitz

In der letzten Schulwoche vor den Sommerferien reisten 40 Schülerinnen der E-Phase 24/25 und 5 Lehrkräfte des SG nach Krakau, um von dort aus die Gedenkstätte des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz zu besuchen. Zuvor wurden die Schülerinnen intensiv in einem Vertiefungskurs auf die Fahrt vorbereitet. Die finanzielle Unterstützung des Inner Wheel Clubs Gütersloh sowie eines Förderprogramms der Landes NRW ermöglichten diese Fahrt. An dieser Stelle sei hierfür ein herzliches Dankeschön gesagt.

Die Schülerin Loresa Buzolli aus der jetzigen Q1 berichtet im Folgenden über ihre Erlebnisse:

Als ich erfuhr, dass ich zu den rund vierzig Schüler*innen gehören würde, die an der Fahrt nach Krakau und Auschwitz teilnehmen dürfen, war ich aufgeregt, aber auch nervös. Seit Jahren wird im Unterricht der Holocaust gelehrt. Es gibt zahlreiche Bücher, Dokumentationen und Filme, in denen versucht wird, von dem Leid und der Ermordung von Millionen von Menschen zu berichten und diesem zu gedenken. Und doch bleibt das alles irgendwie abstrakt, fast unwirklich. Ich fragte mich deshalb Folgendes vor der Abfahrt: „Kann man das Unbegreifliche überhaupt begreifen oder muss man dafür selbst an den Ort des Geschehens gehen? Und warum ist Erinnerung heute noch so wichtig?“

Am Sonntagmorgen, dem 6. Juli, fuhren wir früh los. Die Stimmung im Bus war munter, viele lachten, redeten, hörten Musik. Nach der langen Busfahrt kamen wir am Sonntagabend in Krakau an. Wir bezogen schnell unser Hotel und unternahmen noch einen fast magischen Spaziergang durch die Altstadt. Die Schönheit von Krakau in Form von den alten und beindruckenden Gebäuden, die warmen Farben, die Musik auf den Straßen, all das stand im starken Kontrast zu dem, was uns in den nächsten Tagen erwartete.

Am Dienstagmorgen fuhren wir nach Oświęcim und besuchten das Stammlager Auschwitz I. Schon am Eingang, unter dem berüchtigten Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“, wurde mir bewusst, dass kein Geschichtsbuch dieser Welt einen auf diesen Moment vorbereiten kann. Der Boden, auf dem wir standen, war Boden der Geschichte. Der Ort atmete eine bedrückende Stille, die sich wie ein Gewicht auf die Schultern legte.

Während der Führung sprach unsere Guide ruhig, sachlich und respektvoll. Sie erklärte die Strukturen des Lagers, zeigte uns die Baracken, die Gaskammern, die Ausstellungen. Doch zwischen all den Fakten betonte sie immer wieder, was sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt: die „Menschlichkeit der Opfer“ und das „unmenschliche Handeln der Täter“.

Mit jedem Ausstellungsraum, den wir betraten, bröckelte die gefasste Fassade eines jeden von uns. Besonders in dem Ausstellungsraum, in dem Fotos abgemagerter Gefangener und Kinderzeichnungen hängen, wurde es für mich persönlich zu viel. Tränen strömten mir bereits die Wangen runter und ich ging schnell raus an die frische Luft, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Ich glaube, dies war die intensivste Reaktion, die ich mit der Konfrontation von solchem Leid je erfahren habe.

Nach dem Besuch des Lagers wurden wir in zwei Gruppen aufgeteilt, um an unterschiedlichen Workshops in der IJBS teilzunehmen. Ich nahm am Workshop „Das Auschwitz-Album“ teil. Das Auschwitz-Album ist eine einzigartige Fotosammlung aus dem Jahr 1944, die die Ankunft ungarischer Juden im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau dokumentiert. Es wurde von SS-Mitgliedern aufgenommen und später von der Überlebenden Lili Jacob gefunden. Das Album gilt als eines der wichtigsten visuellen Zeugnisse des Holocaust.

Dort haben wir noch einmal richtig gespürt, wie sehr Bilder aus ihrem Zusammenhang gerissen werden können. Auf den ersten Blick zeigten die Fotos im Album scheinbar harmlose Szenen, z.B. Menschen, die aus Zügen steigen, Familien, die unter Bäumen Schatten suchen, und Kinder, die miteinander spielen. Auf den zweiten Blick erkennt man jedoch überwiegend Frauen auf den Bildern, welche uns durch ihre Mimik verraten, dass sie Unheilvolles erahnen.
Genau an diesem Tag wurden Tausende Frauen, Kinder, Alte und Kranke ermordet.
Diese Bilder zeigen, wie trügerisch solche Fotos sein können und wie leicht Erinnerung verzerrt wird, wenn man den Kontext verliert.

Der Workshopleiter war sehr einfühlsam und geduldig. Am Ende sagte er uns, wie sehr er unsere Bereitschaft, an so einer Fahrt teilzunehmen, bewundert. Für ihn war es etwas Besonderes, dass junge Menschen freiwillig diesen Weg gehen. Für uns dagegen war es selbstverständlich, sich mit diesem Teil unserer Geschichte auseinanderzusetzen.

Am Mittwoch fuhren wir früh nach Brzezinka, zum Vernichtungslager Auschwitz II/Birkenau. Schon vor der Ankunft wussten wir, dass das Vernichtungslager größer war als das Stammlager. Die Vorstellung selbst konnte jedoch keinen von uns darauf vorbereiten, wie erschreckend der Moment der tatsächlichen Realisation war.

Das Erblicken der weiten Gleisanlagen, der endlosen Barackenreihen und die schiere Größe des Geländes rissen uns kurzweilig aus der Realität, um uns anschließend wieder bewusstzumachen, was für ein Albtraum hier tatsächlich stattgefunden hat. Während der Führung erklärte unsere Guide sachlich die Abläufe, die Selektionsprozesse und die unvorstellbaren Bedingungen der Opfer. Viele aus der Gruppe berichteten später, dass sie die ersten Eindrücke hier nicht gleich emotional herausfordernd fanden wie im Stammlager.

Doch als wir zu der gesprengten Gaskammer gingen, änderte sich die Stimmung schlagartig. Dort wurden uns drei Fotos gezeigt, die an jenem Tag aufgenommen wurden, an dem ungarische Jüdinnen und Juden, die für arbeitsunfähig erklärt worden waren, sofort nach ihrer Ankunft zur Vernichtung ausgesondert wurden. Auf den Bildern sieht man verschwommen entkleidete Menschen in Panik, wie sie versuchen wegzulaufen, und Leichen, die übereinandergestapelt sind. Diese Szenen trafen uns wie ein Schlag. Plötzlich wurden die Gewalt und das Grauen wieder physisch spürbar.

Nach der Tour unterhielten meine Freundin und ich uns schließlich noch mit der Guide. Wir fragten, wie sie es schafft, täglich an einem so belastenden Ort zu arbeiten. Sie erzählte offen, dass es am Anfang sehr schwer gewesen sei, sie aber weitermache, weil sie wisse, wie wichtig Aufklärung und Erinnerung sind. „Ich tue es, denn Erinnerung schützt“, sagte sie. „Wenn Menschen verstehen, was hier passiert ist, ist das der einzige Weg, zu verhindern, dass es je wieder geschieht.“.

Anschließend nahmen wir im Bildungszentrum der Gedenkstätte an einem Workshop teil, der den Titel „Das elfte Gebot: Sei nicht gleichgültig“ trug. Dort reflektierten wir, dass unsere Reise selbst eine Form war, dieses Gebot zu leben. Wir sprachen darüber, was Gleichgültigkeit bedeutet, damals wie heute, und wie sie zu Unrecht, Hass und Diskriminierung führen kann.

Ich fand diesen Workshop sehr eindrucksvoll, weil er die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlug. Wir diskutierten, wie wichtig es ist, nicht wegzusehen, wenn Menschen heute ausgegrenzt werden oder Ungerechtigkeit erfahren. „Gleichgültigkeit“ steht für Verantwortung, Mut und Empathie. Werte, die in Auschwitz millionenfach verloren gingen, die wir aber heute umso mehr bewahren müssen.

Auch hier zeigte sich die Workshopleiterin sehr einfühlsam. Als wir uns am Ende des Workshops bei ihr bedankten, für ihre tolle Art und allgemein für ihre wertvolle Arbeit, schloss Sie uns in ihre Arme, mit Tränen in den Augen und bedankte sich bei uns für unser Engagement und unsere Bereitschaft.

In den Stunden nach den Aufenthalten im Stamm- und Vernichtungslager und den folgenden Tagen erlebten wir Krakau von einer anderen Seite: die lebendige Altstadt, das jüdische Viertel Kazimierz, die Musik, das Lachen und das spürbare Leben. Diese Momente waren wichtig, denn sie wirkten wie ein Atemholen nach der Schwere von Auschwitz. Sie halfen mir, das Gesehene zu verarbeiten. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass Erinnerung und Leben sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Gerade weil es so viel Leid gab, ist es heute umso wertvoller, dass Orte wie Krakau leben, atmen, weitergehen.

In Kazimierz sahen wir die Spuren jüdischen Lebens. Alte Synagogen, kleine Gedenktafeln, aber auch moderne Restaurants, die jüdische Kultur wieder aufleben lassen. Für mich war das ein Zeichen, dass Geschichte nicht nur aus Schmerz besteht, sondern auch aus Überleben und Neubeginn.

Unsere Gruppe war während der gesamten Fahrt eine große Stütze. Wir haben viel miteinander geredet, gelacht, aber auch gemeinsam geschwiegen. Ohne diese Gemeinschaft wäre es viel schwerer gewesen, die Erlebnisse zu verarbeiten. Es war tröstlich, zu wissen, dass niemand allein mit seinen Gefühlen war.

Auch unsere Lehrer*innen waren unglaublich aufmerksam. Sie gaben uns Freiraum, achteten aber darauf, wie es uns ging. Abends suchten sie immer mit jedem das Gespräch, erkundigten sich, ob wir zurechtkommen, und zeigten echtes Mitgefühl. Ich glaube, das hat uns allen geholfen, mit der emotionalen Last noch besser umzugehen.

Wenn ich heute auf die Reise zurückblicke, kann ich meine ursprüngliche Frage vielleicht nicht vollständig beantworten. Man kann das „Unbegreifliche“ nie ganz begreifen. Aber ich habe verstanden, dass „Verstehen“ nicht bedeutet, alles zu erklären, sondern hinzusehen, mitzuleiden, sich zu erinnern. Auschwitz hat mir gezeigt, wie dünn die Grenze zwischen Menschlichkeit und Grausamkeit sein kann. Und Krakau hat mir gezeigt, dass Leben und Hoffnung trotzdem weitergehen.

Ich bin dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte. Sie hat mich traurig, wütend, hilflos, aber auch stark und entschlossen gemacht. Denn Erinnerung ist nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, sondern eine Aufgabe für die Zukunft.

Und vielleicht ist genau das die Antwort: „Man begreift das Unbegreifliche nicht, aber man lernt, Verantwortung daraus zu tragen.“

Von Loresa Buzolli

 

Fotografische Dokumentation des Besuches